Prof. Dr. Thomas Fischer

Cum/Ex-Geschäfte: Spurensuche und Spurenverwischung

Im März 2021 soll in Hamburg der Parlamentarische Untersuchungsausschuss „Cum/Ex-Steuergeldaffäre“ seine Arbeit aufnehmen. Gegenstand der gemeinsam von CDU und DIE LINKE beantragten Untersuchung sollen mögliche politische Einflussnahmen auf Entscheidungen der Finanzbehörden im Zusammenhang mit „Cum/Ex-Geschäften“ der Hamburger Warburg Bank sein. Parallel dazu verhandelt eine Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Bonn in einer Serie von Strafverfahren gegen Verantwortliche der Bank, die von ehemaligen Geschäftspartnern belastet wurden, deren ebenso späte wie erstaunliche Reue von der Justiz recht großzügig belohnt wird. Zugleich versucht die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), deren nächstes Desaster mit der „wirecard“-Pleite schon wieder angerollt ist, mit harten aufsichtlichen Maßnahmen gegen die Eigentümer der größten inhabergeführten deutschen Privatbank vorzugehen und gegenüber diesem vermeintlich schwachen Gegner rückwirkend Entschlossenheit zu demonstrieren. In dem für Laien kaum verständlichen und unübersichtlichen Komplex „Cum/Ex“ scheint es, wenn man manchen medialen Darstellungen folgt, als stünden die Rollen der Schurken, der Guten und der Unbeteiligten schon fest. Diese Annahme ist voreilig. Erinnerungen an die sogenannten „Barmat-Kutisker-Skandale“ des Jahres 1925 liegen nicht fern.

I.
Seit Jahren haben Gerüchte, Empörungen und Behauptungen über steuergetriebene Aktiengeschäfte, die unter dem Namen „Cum/Ex-Geschäfte“ bekannt geworden sind und mindestens seit Beginn der 2000er Jahre bis Ende 2011 von einer Vielzahl von deutschen Banken und Finanzdienstleistungsunternehmen unter Mitwirkung von Marktteilnehmern im Ausland betrieben wurden, für Aufsehen gesorgt. In der öffentlich-medialen Wahrnehmung handelt es sich – schlagwortartig – um „den größten Steuerbetrug“ in der Geschichte der Bundesrepublik. Andere nennen es „Steuerraub“; auch der Begriff „Skandal“ findet großzügig Verwendung.

Die wenigsten Bürger wissen, um was es dabei geht. Meist ist allenfalls vage bekannt, dass „Cum-Ex“-Geschäfte dazu führen konnten, dass eine Quellensteuer, nämlich die Kapitalertragssteuer, auf Dividendenerträge einmal an die Finanzbehörden abgeführt wurde, aber von zwei verschiedenen Steuerpflichtigen mit ihrer Körperschaftssteuerschuld verrechnet werden konnten, was unter Umständen zu einer zweifachen Erstattung führte.

Die von Pressemedien veröffentlichten Berichte waren teils sehr engagiert und auch aufklärend, teilweise aber auch von wenig Sachkenntnis und umso mehr moralischer Entrüstung getragen. Popularisierung, Vereinfachung und Emotionalisierung gehören zum Handwerkszeug und auch zur Aufgabe der Presse; Tageszeitungen und Fernsehmagazine sind keine wissenschaftlichen Medien und erst recht nicht Agenturen strafrechtlicher Ermittlungen. Das hat seine Quellen in der Sache selbst, aber auch in der spezifischen Konstellation der beteiligten. Die beispielhafte Überschrift „So bestehlen uns Superreiche: Eine Anleitung in sechs Schritten“ (Handelsblatt, 19.10.2018) bringt einen Teil davon zum Ausdruck: Verbrecherische „Superreiche“ auf der einen Seite, „wir“ auf der anderen. „Wir“, das sind die großzügig in ein fiktives gemeinsames Boot geholten „einfachen“ Menschen, die redlichen Steuerzahler und „kleinen Sparer“. Sie wissen wenig vom internationalen Kapitalmarkt und erst recht von den Details des Steuerrechts. Das Geltendmachen von Werbungskosten bei der Einkommensteuer gilt ihnen als „Steuertrick“, für dessen Anwendung man Jahr für Jahr die immer gleichen Ratgeber-Bücher benötige.

Auf der anderen Seite befindet sich ein System der internationalen Finanzwirtschaft, das spätestens seit der Lehman-Pleite und der Finanzkrise 2008 im allgemeinen Verdacht moralisch und rechtlich zumindest zweifelhafter Tätigkeit steht. Der Staat, der über ganz oder teilweise staatseigene Banken in höchstem Maß in dieses System involviert ist, tritt auf beiden Seiten und in zwei Gewändern zugleich auf: Als big player der Finanzindustrie einerseits, als Anwalt der „kleinen Leute“ andererseits.

Wenn es um Geld geht, vor allem um sehr viel Geld, ist nicht nur der Neid steter Begleiter jedes öffentlichen Räsonierens. Stets geht es auch darum, die Rollen und Positionen der Gerechtigkeit zu besetzen: Wer ist „groß“ und wer „klein“, wer ist Opfer, wer Täter, wer hat Reichtum und Erfolg „verdient“ (man selbst) und wer nicht (die anderen)? Dazu gehören auch Zuschreibungen, die auf solche Rollen zielen und für die öffentliche Meinungsbildung von erheblicher Bedeutung sind: „Superreiche“ können eigentlich nur verdächtig sein. „Whistleblower“ dagegen gelten als auf den Pfad der Tugend eigenschwenkte Bekehrte. Selbst schwerreich gewordene Initiatoren illegaler Geschäfte erscheinen, sobald sie „Wistleblower“ genannt werden, in freundlichem Licht. Für „Kronzeugen“ gilt das nicht gleichermaßen, selbst wenn es sich um dieselben Personen handelt. Sie stehen auf der Seite der (staatlichen) Macht.

Daraus kann man nur schließen: Wenn man einer Sache auf den Grund gehen will, sollte man sich von untergründigen Bedeutungen, Zuschreibungen und Bildern so weit wie möglich freimachen. Wer zu den Guten gehört und wer zu den Bösen, ergibt sich bestenfalls am Ende und keinesfalls am Anfang einer Prüfung. Untersuchungen mit der Aufgabe, einen „größten Steuerraub“ oder unerhörten Skandal aufzuklären, tragen ihr vorweg genommenes Ergebnis schon im Titel. Es ist demgegenüber darauf zu setzen, dass auch die teilweise sehr komplizierten Vorgänge und Verwicklungen im Bereich „Cum/Ex“ den interessierten Bürgern verständlich gemacht und aufgeklärt werden können.

II.
Steuer-motivierte Geschäfte mit Aktien sind nicht im Allgemeinen verboten, sondern legal. Auch sog. „Cum-/Ex“-Geschäfte sind nicht stets gesetzwidrig. Eine – offenkundig widersinnige und unzulässige – Verdopplung eines Erstattungsanspruchs hinsichtlich einer nur einmal abgeführten Quellensteuer konnte nur in bestimmten Konstellationen eintreten und war weder notwendige Folge eines Leerverkaufs noch eines „Dividendenstripping“. Bei der inzwischen einhellig als illegal angesehenen Praxis verdoppelter Geltendmachung von nur einmal abgeführter Kapitalertragsteuer haben der deutsche (Steuer-)Gesetzgeber und die Steuerverwaltungen des Bundes und der Länder eine gravierende Rolle gespielt. Umso erstaunlicher ist es, dass seit einigen Jahren Stellen und Akteure, die in besonderem Maß für „Lücken“ und/oder Fehlinterpretationen der Vergangenheit zuständig waren oder in besonders großem Umfang davon profitiert haben, nach dem Vorbild des Modells „Haltet den Dieb“ bemerkenswerte Inszenierungen aufführen.

Erst Ende 2011, nach Ende der der sog. „Finanzkrise“, verstand sich der Bundesgesetzgeber dazu, die zuvor angeblich unauffindbaren oder umstrittenen „Lücken“ der Steuergesetzgebung zu schließen, welche die inkriminierten „Cum-/Ex“-Geschäfte ermöglicht hatten. Erst in den folgenden Jahren begann, auch unter dem Druck einer kritischen Öffentlichkeit, eine Aufarbeitung der Vorgänge mit dem Ziel, eventuell zu Unrecht erlangte Steuervorteile zurückzufordern und zugleich die institutionellen und persönlichen Verantwortlichkeiten aufzuklären, die zu der jahrzehntelangen Unklarheit und Untätigkeit geführt hatten.

Am 19. Juni 2017 hat der am 18. Februar 2016 (BT-Drs. 18/6839, 18/7601) eingesetzte 4. Untersuchungsausschuss des 18. Deutschen Bundestags zu den „Cum-Ex“-Geschäften seinen Abschlussbericht vorgelegt (BT-Drs. 18/12700); der Bericht der Ausschussmehrheit umfasste mehr als 500 Seiten; zwei Minderheitsberichte und die Stellungnahmen hierzu weitere 100 Seiten.

Entgegen heutigen Bekundungen, wonach die Problematik der Cum/Ex-Geschäfte sich den Finanzverwaltungen des Bundes und der Länder angeblich erst nach 2013 ganz erschloss, ergibt sich aus den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses und anderen Quellen, dass die Finanzverwaltungen schon frühzeitig Kenntnis davon hatten, dass es in bestimmten Konstellationen von Aktiengeschäften auf der Grundlage einer interessengeleiteten, sehr weiten Auslegung einer Grundsatzentscheidung des Bundesfinanzhofs aus dem Jahr 1999 zu doppelten und daher rechtlich zweifelhaften Steuererstattungen kommen konnte. Gleichwohl wurden die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür jahrelang nicht beseitigt. Vielmehr wurde mit dem Ziel, die Steuerausfälle zu „verringern“, erst ab 2007 eine Regelung eingeführt, die bestimmte Durchführungsmethoden der „Cum/Ex“-Geschäfte ausschloss, diese jedoch im Grundsatz weiter ermöglichte, aber komplizierte und auch für einzelne Beteiligte vielfach undurchschaubar machte.

In besonders umfangreichem Maß wurden die Geschäfte von drei Landesbanken (WestLB, HSH-Nordbank, LBBW) betrieben, die ganz oder zu großen Teilen im Eigentum des Staates standen und in deren Kontrollgremien hochrangige Politiker verantwortlich waren. Eine zentrale Rolle bei der Abwicklung nahmen die Deutsche Bank und mit dieser verbundene Institute in Großbritannien ein. Umso erstaunlicher – um nicht zu sagen: bezeichnender – ist es, wie, in welcher Reihenfolge und mit welcher Gewichtung die staatlichen Aufklärungs- und Verfolgungsorgane eingesetzt werden, um den angeblich „größten Steuerbetrug der deutschen Geschichte“ aufzuarbeiten.

III.
Worum geht es in der Sache? Das allgemeine Geschäftsmodell des seit den 1970er Jahren praktizierten – legalen! – so genannten „Dividendenstripping“ basiert darauf, dass aufgrund unterschiedlicher nationaler Steuergesetze deutsche (institutionelle) Aktionäre die auf Dividenden entfallende Kapitalertragsteuer (früher 20 %, inzwischen 25 % der Dividende), die bis Ende 2011 als sog. Quellensteuer von dem emittierenden (Dividende ausschüttenden) Unternehmen abgeführt werden musste, von ihrer Körperschaftssteuerschuld abziehen können. (Das entspricht im Grundsatz der Anrechnung der „Lohnsteuer“, die als Quellensteuer vom Arbeitsgeber abzuführen ist, auf die Einkommensteuer des Arbeitnehmers).

Im Ausland besteht diese Möglichkeit oft nicht. Daher wickeln in- und ausländische (meist) Finanzdienstleister wechselseitige kurzfristige Aktiengeschäfte ab, um die inländische (deutsche) Anrechnungs-/Erstattungsmöglichkeit für ausländische Aktionäre nutzbar zu machen: Kurz vor dem sog. Dividendenstichtag, dem Tag, an dem die Hauptversammlung des jeweiligen Aktien-Emittenten die Dividende beschließt, verkauft der ausländische Aktionär eine große Menge Aktien an eine deutsche Bank als Käuferin. Diese Aktien enthalten auch den Anspruch auf die Dividendenzahlung, die mit dem Stichtag fällig wird; sie werden also „cum“ (= lat. „mit“) Dividendenanspruch verkauft und auch „cum“ Dividendenanspruch (vor dem Dividendenstichtag) geliefert (d.h. in das Depot des Käufers eingebucht). Der inländische Käufer erhält nach dem Dividendenstichtag die Dividende abzüglich 25 % Kapitalertragssteuer. Diese Steuer lässt er sich von seinem Finanzamt erstatten. Sodann liefert er aufgrund eines „Future“-Kaufvertrags, der den Rückkauf derselben oder gleichartiger Aktien betrifft – die Aktien an den urspürglichen Inhaber (Verkäufer) im Ausland zurück. Der Preis für diesen Rückkauf wird so angesetzt, dass von den 25 % Kapitalertragssteuer, die der Käufer und Rückverkäufer vom Finanzamt erhält, vielleicht 22 % an den Verkäufer und Rückkäufer gegen. Die restlichen 3 % sind die „Provision“ des Inländers.

Dieses Grundmodell des Dividendenstripping war legal und üblich. Dass allein aus den steuerlich bedingten „Preisen“ der Aktien unter Ausnutzung der national verschiedenen Steuerrechtslagen ein Marktgewinn generiert wird, der mit der Realwirtschaft nicht in Zusammenhang steht, mag den sprichwörtlichen „kleinen Sparer“ erstaunen, ist aber eine gesetzeskonforme Folge des internationalen Finanzmarktes. Sie trägt im Übrigen auch dazu bei, dass in sehr erheblichem Umfang ausländisches Kapital in die deutsche Wirtschaft fließt.

„Cum-/Ex“-Geschäfte verändern das Modell des Dividendenstripping insoweit, als Aktien vor dem Dividendenstichtag mit Dividendenanspruch gekauft und (im Grundsatz nach zwei Tagen) nach dem Dividendenstichtag ohne Dividendenanspruch geliefert werden, da die Dividende vom Emittenten an den am Stichtag berechtigten Eigentümer unter Abzug (und Abführung) der Kapitalertragsteuer gezahlt wird. Der Eigentümer der Aktie kann sich die KESt im Rahmen seiner Körperschaftssteuerpflicht anrechnen oder erstatten lassen. Der Käufer der Aktie erwirbt diese cum Dividendenanspruch, erhalt sie aber ex Dividende; er hat daher Anspruch auf eine Kompensationszahlung in Höhe der Brutto-Dividende abzüglich der KESt. Durch das Jahressteuergesetz 2007 ist die Kompensationszahlung hinsichtlich der KESt der Original-Dividende gleichgestellt worden; zugleich wurde bestimmt, dass die Steuer von dem als Depotbank des Verkäufers tätige, den Verkauf durchführenden inländischen Finanzinstitut abzuführen sei.

Die Gefahr, dass aufgrund der finanztechnischen Abwicklung der Geschäfte – insbesondere bei sog. OTC-Geschäften außerhalb der üblich en Börsenroutinen – hochgradig unübersichtliche Lagen entstehen, sie zu doppelter Geltendmachung von einmal abgeführter KESt führen, steigt stark an, wenn der Verkauf der Aktien durch den ausländischen Verkäufer als Leerverkauf stattfindet, die Aktien sich zum Dividendenstichtag also im sachenrechtlichen Eigentum eines – unbekannten – Dritten befinden. Für den inländischen Käufer ist anhand der Abwicklungsdaten nicht erkennbar, ob ein solcher Fall vorliegt.

Soweit heute nachträglich behauptet wird, dies könne anhand des sog. Dividendenlevels erschlossen werden, also der Kaufpreisrelation, in welcher die Rückübertragung der Aktien im Wege eines Future-Geschäfts vereinbart wird, ist das zweifelhaft und streitig. Selbst wenn im Einzelfall eine solche Erkennbarkeit gegeben gewesen wäre, würde hieraus allenfalls ein Vorwurf der Fahrlässigkeit folgern, nicht aber ein Nachweis von Vorsatz. Die Annahme insbesondere der Staatsanwaltschaft Köln und des Landgerichts Bonn in seinem Urteil vom März 2020, das „Kennenmüssen“ der Verantwortlichen der Warburg Bank stelle ein durchgreifendes Indiz für deren Vorsatz dar, ist rein spekulativ. Überdies erscheint es bemerkenswert, dass diese Schlussfolgerung auch von Behörden und Stellen gezogen wird, die selbst seit vielen Jahren bekunden, die behauptete Illegalität der Geschäfte weder tatsächlich noch rechtlich zutreffend erkannt zu haben. Wenn heute Verantwortlichen der Warburg Bank vorgehalten wird, aus dem „Kennenmüssen“ der möglichen Abwicklungszusammenhänge und hieraus folgender Gefahren ergebe sich ein (mindestens bedingter) Vorsatz bandenmäßiger Steuerhinterziehung, müsste dies bei Verantwortlichen von im Eigentum des Staats stehenden Banken gleichermaßen gelten, die exakt dieselben Geschäfte in ungleich größerem Umfang betrieben. Die ein Jahrzehnt währende weitgehende Untätigkeit der Aussichts- und Strafverfolgungsbehörden in dieser Richtung ist daher mit sachlichen Erwägungen nicht begründbar. Dieser Feststellung kann man nicht mit der wohlfeilen Formel begegnen, es geben keinen Anspruch auf „Gleichheit im Unrecht“.

IV.
Die strafrechtliche Verfolgung der im Rahmen von „Cum/Ex“-Geschäften begangenen Steuerhinterziehungen ist bis heute auf erstaunliche Weise einseitig verlaufen. Zunächst war sehr lange bei den Finanz- und Strafverfolgungsbehörden unklar und streitig, ob es sich bei den genannten Geschäften um eine (noch) legale Steuer-Gestaltung, einen Anwendungsfall des § 42 AO durch missbräuchliche Gestaltung oder um Fälle der Steuerhinterziehung gemäß § 370 AO handelt. Der Unterschied Letzteren liegt darin, dass bei der missbräuchlichen Gestaltung der zugrunde liegende Sachverhalt zutreffend (bzw. subjektiv vollständig) erklärt, bei der Steuerhinterziehung jedoch über den tatsächlichen Sachverhalt getäuscht wird.
Strafbarkeit von Steuerhinterziehung setzt Vorsatz voraus.

Die Zuständigkeit für strafrechtliche Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit „Cum/Ex“-Geschäften ist bei der Staatsanwaltschaft Köln konzentriert. Dort sollen nach Pressemitteilungen etwa 900 Ermittlungsverfahren geführt werden; allein etwa 90 davon sollen Verantwortliche der Deutschen Bank betreffen. Bis auf Ausnahmen wird die große Mehrzahl dieser Verfahren aber nicht erkennbar gefördert, sondern dümpelt der möglichen Verjährung entgegen.

Mit großem medialem Aufwand werden vielmehr seit 2016 Strafverfahren gegen Verantwortliche sowie im Umfeld der Warburg Bank geführt, der bedeutendsten eigentümergeführten Privatbank der Hansestadt Hamburg. Die Bank hatte in den Jahren 2007 bis 2011, von einer damals als „beste Steuerkanzlei Deutschlands“ bezeichneten Steuerfachanwaltskanzlei beraten und initiiert, Dividendenstripping-Geschäfte als Eigengeschäfte und in geringerem Umfang im Zusammenhang mit Fonds betrieben und als Käuferin von Aktien Kapitalertragssteuererstattungen beantragt und erhalten, nachdem sie die Aktien von einem in England tätigen Broker erworben und den Bruttowert als Kaufpreis bezahlt hatte. Dem lagen Gutachten der genannten Kanzlei zugrunde, die das Geschäftsmodell nicht erfunden, aber verfeinert und angeboten hatte, wonach an der steuerrechtlichen Zulässigkeit keine durchgreifenden Zweifel bestanden. Durchweg war als Depotbank des Verkäufers die Deutsche Bank beteiligt, die die Kapitalertragssteuer auf die Dividendenkompensationszahlung hätte abführen müssen, dies jedoch ohne Kenntnis der Warburg Bank unterließ, weil sie eine Verpflichtung hierzu nicht sah.

Am 18. März 2020 sind zwei zunächst für die HypoVereinsbank, später für eine von dort ausgeschiedenen Mitarbeitern gegründete Gesellschaft auf Seiten der Aktienverkäufer tätige englische Aktienhändler vom Landgericht Bonn zu Freiheitsstrafen von 1einem Jahr und zehn Monaten und einem Jahr verurteilt worden, deren Vollstreckung jeweils Zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Angeklagten waren geständig; ihre Aussagen hat das Landgericht dahin bewertet, dass sie die Verantwortlichen der Warburg Bank belasteten. Die festgesetzten Rechtsfolgen – einschließlich einer Einziehung in Höhe von 14.000 € gegen einen der Angeklagten – wurden in Anbetracht der vom Landgericht festgestellten Schadenshöhe zu Recht allgemein als überaus „milde“ angesehen. Gegen die Warburg Bank als Einziehungsbeteiligte ist in diesem Verfahren die Einziehung eines Geldbetrags in Höhe des (angeblichen) Schadens von 176 Mio. € angeordnet worden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Derzeit läuft vor derselben Strafkammer die Hauptverhandlung gegen einen früheren Bevollmächtigten der Warburg Bank. Eine weitere Anklage gegen Mitarbeiter der Bank ist von derselben Strafkammer bereits zugelassen worden. Überdies werden von der Staatsanwaltschaft Köln Ermittlungsverfahren wegen bandenmäßiger Steuerhinterziehung gegen die beiden Haupteigentümer der Bank geführt. Die Verfahren gegen Verantwortliche der Warburg Bank werden von der Staatsanwaltschaft als „vorrangig“ betrieben; das Urteil vom März 2020 wird vielfach als „Muster“ für die nachfolgenden Verfahren bezeichnet.

In beiden Hauptverhandlungen ist als sog. „Kronzeuge“ ein Partner der oben genannten Steuerkanzlei aufgetreten, der sich, nachdem auch gegen ihn ermittelt wurde, im Jahr 2016 der Staatsanwaltschaft als Zeuge angeboten hat und gegen die Zusage der Staatsanwaltschaft, es komme im Verfahren gegen ihn ein „Absehen von Strafe“ gem. § 46b StGB in Betracht, wenn er genügend Belastungsmaterial gegen Dritte „liefere“, in umfangreichen Vernehmungen Verantwortliche der Warburg Bank, also Mandanten seiner eigenen früheren anwaltlichen Beratungstätigkeit, belastet hat. Der Zeuge, der in der Schweiz lebt, ist weiterhin als Rechtsanwalt tätig; eine Sicherstellung der ihm zugeflossenen Honorare im hohen zweistelligen Millionenbereich ist nicht erfolgt, auch seine Freizügigkeit ist unbeschränkt geblieben. Gegen seinen ehemaligen Partner, einen früheren Finanzbeamten, mit dem zusammen er das „Cum/Ex“-Modell unter anderem der Warburg Bank als rechtlich unbedenklich empfohlen hat, hat die Staatsanwaltschaft Köln einen Haftbefehl erwirkt und im Januar 2021 Anklage erhoben. Der Angeschuldigte, der ebenfalls in der Schweiz lebt, hat mitteilen lassen, er beabsichtige vorerst nicht, nach Deutschland zu reisen; im Übrigen bestreite er weiterhin die Unzulässigkeit des Cum/Ex-Modells.

V.
Zugleich mit dem offenkundig selektiven strafrechtlichen Vorgehen gegen die Warburg Bank und für sie verantwortliche Personen unternimmt es die BaFin, im Wege der Bankenaufsicht gegen die betroffenen Eigentümer vorzugehen. So ist insbesondere neun Jahre (!) nach der letzten den Betroffenen vorgeworfenen Tat ein aufsichtliches Verfahren eingeleitet worden, in welchem den Eigentümern die bankenrechtliche Zuverlässigkeit aberkannt werden soll. Auch gegen diese nach Auffassung der Betroffenen willkürliche und rechtwidrige Maßnahme ist eine Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht anhängig.

Das Verhalten der BaFin legt den Eindruck nahe, es solle in geradezu sprichwörtlicher Weise ein „Sündenbock“ öffentlich vorgeführt und scheinbar konsequentes Vorgehen demonstriert werden, um von eigenen jahrelangen Versäumnissen und Fehlern abzulenken; zugleich beeindruckt die weithin passive Haltung der Behörde gegenüber denjenigen Akteuren, die – auch nach öffentlicher Darstellung – den weitaus größten Teil des „Cum/Ex“-Geschehens dominierten. Die Gesamtschadenssumme, über die mehr oder weniger spekulativ berichtet wird, wurde auf bis zu 55 Milliarden € geschätzt. Die der Warburg Bank zugerechnete Summe würde hiervon allenfalls gerade 0,3 Prozent ausmachen.

Es erscheint eklatant auffällig, dass gegen diesen vermeintlich schwächeren Privaten mit Härte und erheblichem öffentlichem Aufwand vorgegangen wird, während die Verantwortlichen staatlicher Akteure mit ungleich höherem rechtswidrigem Engagement bislang und unabsehbar unbehelligt bleiben. Angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen der Justiz erscheint die Behauptung, die Verfahren im „Komplex Warburg“ durchgeführten Verfahren seien nur der Anfang einer weitreichenden Strafverfolgung gegen viele hundert Beschuldigte, als schlicht unglaubhaft und bloße Verschleierung des Umstands, dass mit Hilfe einer vorwiegend an Skandalisierung interessierten Presse öffentlichkeitswirksam Verfahren gegen einige wenige Sündenböcke geführt werden, der angeblich „größte Steuerraub der deutschen Geschichte“ jedoch im Übrigen in einem politischen Nebel angeblichen Nichtwissens und demonstrativer Entrüstung bleibt.

Ersichtlich um die Skandalisierung auch auf eine in bevorstehenden Wahlkämpfen nutzbare parteipolitische Ebene auszudehnen, hat die Bürgerschaft der Hansestadt Hamburg im November 2020 auf Antrag der CDU und der Linken einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Cum/Ex-Steuergeldaffäre“ eingesetzt, dessen Aufgabe es sein soll, einen möglichen politischen Einfluss auf die Entscheidung der Hamburger Finanzbehörden aufzuklären, eine Steuerrückforderung gegen die Warburg Bank in Höhe von 46 Mio. € nicht geltend zu machen. Anhaltspunkt für die Skandalisierung dieses Geschehens ist es, dass die Haupteigentümer der Bank im Jahr 2016 drei persönliche Gespräche mit dem damaligen ersten Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, dem heutigen Bundesfinanzminister, führten. Gegenstand dieser Gespräche war die Rechtsposition der Bank und ihre Rolle als inhabergeführte Bank für die Hamburgische Wirtschaft.

Die öffentlich erhobenen Vorwürfe stützen sich auf die Verwertung einzelner Aufzeichnungen in den privaten Tagebüchern eines der Eigentümer, die von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, inzwischen aber zurückgegeben wurden. Durch eine Straftat sind die Tagebücher im Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörden kopiert und an Presseorgane verraten worden. Mehrere Zeitungs- und Fernsehredaktionen rühmen sich seither, im Besitz der höchstpersönlichen und privaten Tagebücher zu sein, und verwenden diese öffentlich nach Belieben. Auch dieses skandalöse Verhalten ist Gegenstand eines Rechtsstreits.

Abwegig ist die wiederholt – zuletzt wieder in einem tendenziös einseitigen Bericht der Redaktion „Panorama“ – insinuierte Behauptung, aus dem Text der (der Redaktion illegal „vorliegenden“) Tagebucheintragungen des Miteigentümers der Warburg Bank ergebe sich inhaltlich etwas, was den Tagebuchschreiber oder seine Gesprächspartner belaste. Die Methode, einerseits einzuräumen, aus dem (illegalen) ergebe sich kein Nachweis für unlauteres Handeln, und dann andererseits anzudeuten, es stelle aber ein gravierendes Indiz dar, ist journalistisch fragwürdig. Tatsache ist, dass die privaten Tagebücher keinen Hinweis auf etwas enthalten, was als „Skandal“ bezeichnet werden könnte.

Die Warburg Bank ist die größte inhabergeführte Privatbank Deutschlands. Sie ist mit der Stadt Hamburg und der Hamburgischen Wirtschaft vielfach und eng verbunden. Nach der Rückkehr der 1938 von den Nazis vertriebenen Familie Warburg aus dem Exil hat sie über Jahrzehnte erheblichen Anteil an der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Prosperität der Hansestadt gehabt und sich große Verdienste erworben. Dass die Eigentümer der Bank über deren Lage und Perspektive – wie zuvor immer wieder auch zu zahlreichen anderen Themen – das Gespräch auch mit der Regierung der Stadt suchen, ist weder illegitim noch auffällig, sondern in der Sache geboten; es entspricht im Übrigen offenkundig auch der Pflicht und Übung politisch Verantwortlicher, für das Gespräch mit wichtigen Akteuren des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens zur Verfügung zu stehen.

Es bleibt abzuwarten, was der Parlamentarische Untersuchungsausschuss, der im März 2021 seine Arbeit aufnehmen soll, an Erkenntnissen gewinnt. Eine Instrumentalisierung für parteipolitische Zwecke wäre ebenso sachwidrig wie eine Vermischung von justiziellen und politischen Kompetenzen. Untersuchungsausschüsse haben (allein) die Aufgabe, Ursachen und Konsequenzen möglicher struktureller oder individueller Fehler im staatlichen Bereich aufzuklären. Sie haben weder Kompetenz noch Zuständigkeit, wie öffentliche Tribunale die behauptetes Fehlverhalten von Privaten zu ermitteln. Dass dem Gegenstand des Ausschusses schon im Titel Namen „Steuergeldskandal“ gegeben wird, legt die Befürchtung nahe, dass dies als Ergebnis bereits feststehe und die Frage gar nicht mehr gar nicht mehr offen sei, ob ein „Skandal“ überhaupt gegeben ist. Parlamentarische Ausschüsse haben, wenn sie entlang parteipolitischer Linie zu genau denselben Ergebnissen der Wahrheitserforschung gelangten, mit denen schon ihre Einsetzung oder Ablehnung begründet worden war, den Parlamenten in der Vergangenheit nicht zur Ehre gereicht. Es ist zu hoffen, dass der Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft dies vermeidet.